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Ciao Gelassenheit
Die Regelstudienzeit ist wie eine über allem liegende Deadline, auf die wir über mehrere Jahre zusteuern. Im Bachelor sind es in der Regel 6 Semester, im Master, den die Mehrheit von uns anschließt, nur noch 4. Im Bachelor war auch uns die Regelstudienzeit unfassbar wichtig, so wie den meisten Studierenden. Umso unrealistischer ihre Einhaltung erscheint, desto größer werden daher der Druck und die Überforderung - „Ja, es muss doch möglich sein, andere schaffen es doch auch!“ „Ich muss nur noch disziplinierter sein.“ Ungebetene Kommentare von Bekannten „Wann bist du denn mal fertig?“ steigern das Druckempfinden noch weiter. Im Extremfall liegt der Fokus hierdurch mehr auf den Credtit Points und der Regelstudienzeit als auf den Studieninhalten und den eigenen Interessen. Für sehr viele Studierende ist die vorgesehene kurze Phase des Studiums tatsächlich nicht einzuhalten. Das geht aus dem Bildungsbericht zuletzt veröffentlicht 2020 hervor.
„Im Schnitt dauert ein Bachelorstudium 7,8 Semester an Universitäten und 7,4 Semester an Fachhochschulen.“
„Entscheiden sich Studierende auch für ein Masterstudium, dann beträgt die Gesamtstudiendauer im Median 12,9 Semester an Universitäten und 11,9 Semester an Fachhochschulen. Dies entspricht ungefähr der Dauer früherer Diplomstudiengänge [1].“
Für die Überschreitung der Regelstudienzeit gibt es viele legitime Gründe: Doppelbelastungen und Verpflichtungen wie ein Nebenjob, Ängste, Lernschwierigkeiten, Überforderung, chronische Erkrankungen, ein Privatleben mit Hobbys, sinnvolle Praktika und viele weitere. Vielleicht befürchtest auch du, nicht zeitnah fertig zu werden und hast sogar Sorge vor finanziellen Konsequenzen, so wie wir sie im Bachelor hatten. Große Angst macht verständlicherweise BAföG beziehenden Studierenden, dass die Förderung nur für die Regelzeit gewährt wird. Eines vorweg: Es liegt ziemlich sicher nicht an deiner Unfähigkeit oder der mangelnden Leistungsbereitschaft, dass du der Zeit hinterherrennst. Aber woran liegt es dann?
Seit Ende der 1990er Jahre wurden im Bereich der tertiären Bildung mehrere Reformen gleichzeitig durchgesetzt, die weitreichende Folgen für uns haben. Folgenreich ist insbesondere die Verkürzung der Regelstudienzeit. Das durchschnittliche Alter von Hochschulabsolventen* hat sich tatsächlich deutlich verändert. Bis zum Jahr 2010 schlossen Studierende das Studium im Durchschnitt im Alter von 26,5 Jahren ab, 2020 betrug das Durchschnittsalter hingegen 23,6 Jahre [2].
Wo sich Studierende vor einigen Jahren also noch mit größerer Gelassenheit hochkomplexe Inhalte aneigneten, werden wir heute sehr viel stärker getrieben. Darunter leiden insbesondere Studierende, die aus einer niedrigen sozialen Herkunftsgruppe stammen. Jede Veränderung der Rahmenbedingungen hat Folgen für uns und die Gesellschaft.
Um ein Verständnis dafür zu entwickeln, haben wir uns mit den 2 folgenreichsten Neuordnungen im Hochschulwesen auseinandergesetzt:
Die Bologna Reform (1999/ 2002 in Kraft getreten)
Zu den Zielen der Bologna Reform zählt die bessere Vergleichbarkeit von Abschlüssen in Europa. Dieses Ziel wird durch ein einheitliches Bewertungssystem (Credit Points) und die Implementierung von Modulen in die Studiengänge erreicht. Hierdurch soll die Flexibilität Studierender und Lehrender in Europa gestärkt und die Qualität universitärer Lehre im internationalen Vergleich verbessert werden. Zudem umfasst die Reform eine Kürzung der Studiendauer mit dem Ziel, einen frühen Berufseinstieg zu ermöglichen und dem Arbeitsmarkt schnell kompetente Arbeitnehmer zur Verfügung zu stellen. Seit dem Inkrafttreten der Reform ist das Studium also in Module gegliedert, die mit einer jeweiligen Modulprüfung zu enden haben und das Bachelor-/ Mastersystem löst die Diplom- und Magisterstudiengänge ab.
Wir glauben, dass die Verkürzung der Regelstudienzeit für uns vorwiegend ungünstige Folgen hat, allem voran das enorme Stresserleben und damit die zunehmende Verbreitung von Burn – out im Studium. Durch die Einführung der Module kommt es zu einer Verdichtung von Prüfungen, in Kombination mit der Kürzung der Regelstudienzeit entsteht Spannung. Die vorgegebene Regelzeit ist wahrscheinlich ohne größere Probleme nur unter optimalen Studierbedingungen und nicht in jedem Studiengang einzuhalten, das führt zur Benachteiligung und Ohnmachtsgefühlen vieler Studierender. Die Beschleunigung der Bildungsprozesse hat auch unerwünschte Folgen für die Wirtschaft, die unzureichend ausgebildete Studierende beklagt. Während seiner Amtszeit äußerte sich auch der ehemalige Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Prof. Dr. Horst Hippler, kritisch über die Verkürzung der Studienzeit wie in der Süddeutschen Zeitung zu lesen ist:
"Die Unternehmen brauchen Persönlichkeiten, nicht nur Absolventen. Wir alle arbeiten immer länger, da ist es sinnvoll, am Anfang mehr Zeit zu investieren und eine solche Persönlichkeit auszubilden. Hierzu gehört auch, dass Studenten über den Tellerrand des Fachs hinausschauen können. Der Jugendwahn ist an dieser Stelle vorbei."
Weiter plädierte er für eine Rückkehr zu flexibleren Studienverläufen und mehr Ruhe im akademischen Entwicklungsprozess:
"Vor allem brauchen wir wieder ein Studieren in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, abseits der starren Vorschriften der Regelstudienzeit [3]."
Sein Statement ist jetzt 10 Jahre her, an der Regelstudienzeit und den starren Verlaufsplänen hat sich wenig geändert. Die Beschleunigung von Bildungsprozessen hat einen Einfluss auf deren Qualität und die Lebensdynamik Studierender. Die Konsequenzen sind nicht selten ein hohes Maß an akademischem Stress: „Drucklernen“, permanente Überforderung und damit die Begünstigung von Ängsten und depressiven Erschöpfungszuständen. Keine guten Grundvoraussetzungen für die freie Persönlichkeitsentwicklung. Vielleicht kennst auch du die Folgen des Drucklernens, fühlst dich beispielsweise öfter so, als würdest du neben dir stehen und hast Konzentrationsschwierigkeiten. Der Zeitdruck zwingt viele Studierende zum Multitasking, das mit der Hirnphysiologie beim Lernen nicht wirklich vereinbar ist. Wer hingegen versucht, eine Aufgabe nach der anderen abzuarbeiten und dabei auf die eigene Gesundheit zu achten, hat kaum eine Chance, die Regelstudienzeit einzuhalten. Obwohl Studien aufweisen, wie beeinträchtigt die mentale Gesundheit Studierender in Deutschland ist, werden keine Gegenmaßnahmen flächendeckend ergriffen. Lange Rede, kurzer Sinn: Wir fordern die gekürzten Semester zurück!
Unangenehme Reformkonsequenzen auf einen Blick:
- Die Prüfungsdichte hat durch die Reform stark zugenommen
- Die Gesamtstudiendauer wurde erheblich gekürzt
- Studentische Lernprozesse sind beeinträchtigt
- Ängste und Depressionen werden begünstigt
- Die Qualität der Lehre ist beeinflusst
Die Bologna Reform in Kombination mit dem New Public Management prägen heute die Art der Forschung und Lehre an Hochschulen.
Das „New Public Management“ (NPM) (Beginn der 1990er Jahre) – Eine neue Form der Verwaltung
Das NPM zielt darauf ab, Ressourcen (insbesondere Finanzmittel) im öffentlichen Sektor wirtschaftlich zu verteilen und zu nutzen [4]. Das schließt auch Universitäten und Fachhochschulen mit ein. Diese Form des Managements ist produkt- und ergebnisorientiert. Mit seiner betriebswirtschaftlichen Orientierung soll das NPM Ineffizienzen entdecken wie z. B. zu lange Studienzeiten [5].
Wie finanzieren sich Hochschulen denn überhaupt? Handelt es sich nicht um eine private Uni, verfügen Hochschulen hauptsächlich über folgende Einnahmequellen:
- Staatliche Mittel, Studienbeiträge (die Studiengebühren wurden abgeschafft)
- Selbsterwirtschaftete Mittel
- Drittmittel, die vom Land, dem Bund, anderen Institutionen oder aus der Wirtschaft eingetrieben werden können [5].
Um die Grundfinanzierung zu gewährleisten und möglichst viel vom Budget des Landes zu erhalten, müssen Universitäten derzeit die Erreichung bestimmter Parameter vorweisen und spezifische Leistungen kultivieren. Die Mittelverteilung der Bundesländer erfolgt also leistungs- und erfolgsorientiert und wird mit Hilfe komplexer Formeln berechnet. Die Finanzmittel werden heute nicht mehr anhand der universitären Auslastung verteilt.
Wie die Parameter zur Bemessung der Finanzierung aussehen, variiert zwischen den einzelnen Bundesländern, die für die Finanzierung zuständig sind. Zu den relevanten Faktoren zählen bspw. die Anzahl der Studierenden und die „produzierten“ Absolventen, Publikationen, Zitierungen, Einwerbung von Graduiertenkollegs, die Anzahl eingereichter Forschungsanträge oder die Verringerung der Anzahl Langzeitstudierender. Diese Wertung von Input- & Output Variablen ist in der heterogenen Hochschullandschaft nicht ganz unproblematisch, da es den Besonderheiten einzelner Uni’s nicht gerecht wird [5]. Der Fokus hat sich hierdurch von der Qualität zur Quantität verschoben - Wir persönlich glauben, dass es doch eher um die Qualität z. B. der Publikationen oder der Abschlüsse gehen sollte als um deren Vielzahl. Uni’s sind im Prinzip dazu gezwungen, sich den Anforderungen entsprechend zu entwickeln. Drittmittel nehmen stetig an Bedeutung zu, da die staatlichen Mittel der Grundfinanzierung leider zu gering ausfallen [5]. Zum Teil stammen diese Drittmittel sogar aus der privaten Wirtschaft, wodurch die Freiheit von Forschung und Lehre verloren geht. Hochschulen stehen heute also wesentlich stärker unter finanziellem Druck als früher und dieser Druck wird an uns Studierende und das Forschungspersonal weitergereicht. Ein zweifelsfrei erstrebenswertes Ziel von Hochschulen sind schnelle Studienverläufe, denn die Einhaltung der Regelstudienzeit hat Auswirkungen auf das universitäre Budget. Gerade die Studierenden, deren Studium wesentlich vom BAföG abhängt, bekommen den daraus resultierenden Druck stark zu spüren.
Dieser ganze Druck trifft uns Studierende in einer besonders vulnerablen Lebensphase. Zu Beginn des Studiums gilt es sich vorerst neu zu orientieren und an die Abläufe im Studium zu gewöhnen. Auch uns fiel der Übergang vom schulischen zum akademischen Lernen schwer. Bereits in den ersten Semestern, in denen man sich mit dem eigenen Fach vertraut macht, herrscht die Dynamik aus Zeitstress und Leistungsdruck. Neben der neuen Herausforderung „Studium“ sind da noch eine Vielzahl weiterer individueller Schwierigkeiten. Dazu zählen die Identitätsfindung, finanzielle Sorgen, Ängste und Depressionen. Probleme, mit denen Studierende allzu oft allein gelassen werden.
Wir glauben nicht, dass der Wunsch nach Leistungsbeurteilung von Hochschulen und das Abstimmen von Kriterien zur Hochschulfinanzierung grundsätzlich falsch sind. Wir denken allerdings, dass Effizienzstreben in Bildungs- und Forschungsprozessen nicht immer dienlich ist und nur mit äußerster Vorsicht und differenziert verfolgt werden sollte. Der Erfolg von Wissenschaft lässt sich unserer Ansicht nach nicht beurteilen wie das Produkt einer Firma. Forschung läuft oft in eine Richtung, an die zu Beginn des Prozesses nicht zu denken war oder ihre Bedeutung wird erst Jahre später erkannt. Wie verändert es nun Wissenschaft, wenn deren Ergebnisse rational unter betriebswirtschaftlichen Maßstäben bewertet werden? Die Abstimmung von Parametern der Hochschulfinanzierung muss möglich sein, ohne den natürlichen Prozess der Wissenschaft durch Kontrolle und Misstrauen zu stören. Werden betriebswirtschaftliche Bewertungskriterien unangepasst auf Universitäten übertragen, agieren Wissenschaftler*innen in einem beengenden Korsett. An Bildung und Forschung darf unserer Ansicht nach nicht gespart werden, denn Höherbildung nützt nicht nur dem Einzelnen, sondern der gesamten Gesellschaft. In Angesicht globaler Krisen wie dem Klimawandel sind Vertrauen in die Wissenschaft und eine damit einhergehende geberfreudige Grundfinanzierung unerlässlich.
Die Bedingungen für Studierende sind schon lange ungünstig und nicht fair – Zur selben Zeit unterliegt alles einem stetigen Wandel und der persönliche Einsatz für Bedingungen, die uns im Studium und Leben fördern, ist wichtig. Insbesondere die Rückkehr zu einer angemessenen Regelstudienzeit ist schon seit vielen Jahren zwingend erforderlich und für diese setzen wir uns ein. Schütze deine Gesundheit und deinen Bildungserfolg vor dem externen Druck und der Beschleunigung. Sei achtsam für dich und werte dich vor allem selbst nicht ab, wenn du dem Plan mal hinterherhängst.
Literatur:
[1] Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2020): Bildung in Deutschland 2020, Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung in einer digitalen Welt, URL: https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2020/pdf-dateien-2020/bildungsbericht-2020-barrierefrei.pdf.
[2] Statista veröffentlicht von J. Rudnicka (2022): Durchschnittsalter von Hochschulabsolventen in Deutschland bis 2020, URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/189237/umfrage/durchschnittsalter-von-hochschulabsolventen-in-deutschland/#statisticContainer.
[3] Horst Hippler, in Süddeutsche Zeitung (2012): Zehn Jahre Bologna Reform, Viele Leute sind nicht geeignet für den Arbeitsmarkt, URL: https://www.sueddeutsche.de/bildung/zehn-jahre-bologna-reform-harsche-kritik-an-bachelor-und-master-1.1441136-2.
[4] Prof. Dr. Isabelle Proeller, Tobias Krause in Gabler Wirtschaftlexikon (2018): New Public Management (NPM), URL: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/new-public-management-npm-38664/version-262085.
[5] Sait Başkaya (2020): Beurteilung der Hochschuleffizienz mittels Data Envelopment Analysis (DEA), Ein mehrstufiges und mehrperiodiges DEA-Modell für den Hochschulbereich und seine computergestützte Implementierung mithilfe von GAMS, in: Hans Corsten, Michael Reiß, Claus Steinle, Stephan Zelewski (Hrsg.), Beurteilung der Hochschuleffizienz mittels Data Envelopment Analysis (DEA), Ein mehrstufiges und mehrperiodiges DEA-Modell für den Hochschulbereich und seine computergestützte Implementierung mithilfe von GAMS, Wiesbaden, Springer Gabler.